Harte Zeiten im Verein

Im Anschluss an die Höhepunkte berichtet der Chronist nur ungern über Missstände im Verein. Und doch gehören auch unerfreuliche Epochen in eine Chronik. Ein neues Engagement fällt den Menschen hie und da etwas schwer, namentlich wenn nicht genau vorausgesehen werden kann, mit welchen Menschen man es zu tun bekommt und wie die Anforderungen einen belasten. So mag es auch beim Kirchenchor gewesen sein. Nur mit Idealismus, ohne Toleranz und Verträglichkeit geht das Mitmachen in einem Chor nicht. 

Schon am 26. März 1890, also nur kurze Zeit nach der Gründung, erschien verschiedenen Mitgliedern der Kirchengesang zu mühsam und zu einseitig. Sie hätten sich angeblich lieber dem Volksgesang gewidmet. Viele traten aus dem Verein aus. Neue kamen und die Vereinigung konnte weiter bestehen. Leider hielt die Einheit nicht lange an. Im Protokoll vom 2. Juni 1892 wird geklagt:

«Da seit einigen Monaten nicht mehr die rechte Eintracht im Verein herrscht, derselbe vielmehr ein klägliches Zwitterbild eines Vereins war, so wurde früh (in der Versammlung) den Mitgliedern Gelegenheit geboten, sich auszusprechen und dadurch ein Mittel zu finden, sich aus der Klemme herauszuwinden. An der Diskussion nahmen die meisten Mitglieder teil. Hageldicht fielen die Wurfgeschosse von hüben und drüben, aber man konnte es leicht herausklügeln, dass die Spreitenbacher kampfesmüde sich bald zurückziehen würden. So geschah es auch. Die Eintracht wurde wieder etwas zusammengeflickt, notdürftig genug, es war mehr ein Waffenstillstand, aber das wird die nächste Zeit genügen. Die Verhandlung bot einen schlagenden Beweis, wie äusserst vorsichtig man bei Aufnahmen vorgehen soll. Die Laxheit in diesem Punkt rächt sich später bitter. »

Nach einer weiteren Notiz sollen «Vereinsgeheimnisse» ausgeplaudert worden sein, was viele Mitglieder kränkte, ja sogar erzürnte und zum Austritt bewogen. An der Generalversammlung unterzeichneten dann 32 Mitglieder die Statuten, und der Verein schien neues Leben zu erhalten.

Ausflüge (Vierwaldstättersee 1893) und geselliges Beisammensein wie die Beteiligung an Gesangfesten (Kirchdorf 1894) halfen dann einen besseren Geist in die Reihen zu bringen. Die Präsidenten lasen auch hin und wieder die Statuten vor und erinnerten die Mitglieder an ihre schöne Aufgabe, aber auch an ihre eingegangene Verpflichtung. Im Laufe der Zeit konnten Mitglieder mit guten Stimmen geworben werden und der Chor durfte sich hören lassen.

Alles ging soweit recht gut, bis dann am 28. Dezember 1927 ein «Gewitter» losbrach: Im Vorstand sassen Leute, die ein Teil des Vereins lieber nicht dort gesehen hätte. Es wurde eine Versammlung einberufen, zu welcher aber nicht alle Mitglieder geladen waren. Die Absicht war klar: Es sollten nun die passenden Leute in den Vorstand gewählt werden. Der Schachzug misslang. Man wollte gewisse Leute nicht nur aus dem Vorstand, sondern auch dem Verein fernhalten. Ersatz dafür war bereits bestellt. Viele Absenzen in den Proben und beim sonntäglichen Gesang brachten Misserfolg über Misserfolg. Schliesslich demissionierte der langjährige Dirigent und machte einem Nachfolger Platz.

In der folgenden Generalversammlung wurde dann der Vorstand neu bestellt. Ob es nun um den Verein besser bestellt war, wüssten die damaligen Mitglieder zu berichten. Über den mangelhaften Probenbesuch wird aber auch in den folgenden Protokollen stets geklagt.

Die grosse Inaktivität im Zeitabschnitt von 1910 -1930 mag ihren Grund bei den inneren Schwierigkeiten im Chor suchen. Verschiedene Mitglieder zeigten kein grosses Interesse an öffentlichen Auftritten. Der Gesang in den Gottesdiensten und den Proben hierzu forderten von ihnen gerade Mühe genug. Mag dieser Zustand der Leitung zugeschrieben werden? War sie selbst zu wenig initiativ, die Mitglieder zu animieren?

Im November 1929 entschloss sich der Vorstand, «dem miserablen Probebesuch Einhalt zu gebieten und die Mitglieder, welche während eines Vierteljahres mehr als drei Proben fehlen, aus dem Verein auszuschliessen». Der Chronist fragt sich, ob mit dieser Massnahme dem Verein geholfen werden konnte? Das bevorstehende Bezirks-Cäcilien-Fest in Wettingen (1930) konnte infolge der Interesselosigkeit nicht besucht werden.

Der Ausblick auf die Anschaffung einer Orgel brachte dann etwas mehr Zusammengehörigkeit in den Verein, aber die gewünschten Erfolge blieben während einiger Jahre aus. Das Jahr 1935 gab dann dem Verein einigen Aufschwung. Der Kirchenchor Spreitenbach führte das Bezirks-Gesang-Fest durch und erntete mit seinem Vortrag (und der Organisation) einen gewissen (wenn auch nicht übermässigen) Erfolg.

Der Chor kam über das seit einigen Jahren dauernde, unerfreuliche Tief nicht hinweg, bis dann 1936 mit den unangenehmen Sticheleien und sogar Streitigkeiten ein Ende gemacht werden konnte. Die eingekehrte Ruhe gestattete nun dem Verein, sich auf das nächste Cäcilien-Gesangs-Fest in Birmenstorf (1938) vorzubereiten. Das Selbstbewusstsein kehrte nach und nach wieder ein. Es galt aber, tüchtig zu arbeiten und sich mit Fleiss ins «Zeug» zu legen, und bald konnte sich der Chor wieder an Festen hören lassen.

Immer wieder wurde in den Expertenberichten den Chören (nicht nur Spreitenbach) Mut und Zuversicht eingeflösst. Im Bericht über das Kreis-Cäcilien-Fest in Rohrdorf (1955) lesen wir in diesem Sinne:

«Es zeigt sich, dass auch für kleinere Chöre Werke alter Meister vorhanden sind, die den kirchenmuskalischen Geschmack schulen und zugleich stimmtechnische Fortschritte ermöglichen.

Auf diesem Gebiete zeigen sich noch Mängel, die sehr begreiflich sind. Nicht jeder Kirchensänger kommt mit einem fehlerfreien Stimmorgan in den Chor. Die stimmliche Schulung bedarf also noch besonderer Berücksichtigung. Bewusste Atmung, gute Atemstütze, lockere Tongebung werden gewiss den Gesamtklang veredeln, dem eine eigenartige Müdigkeit anhaftet. Stimmliche Versteifung dürfte der Grund sein für Intonationsmängel im Tenor. Ich möchte die Pflege der Kopfstimme sehr empfehlen. Der Chorklang kann dadurch gewinnen.

Wenn der Kirchenchor Spreitenbach noch besonders stimmliche Schulung betreibt, darf mit einer beachtlichen Qualitätsverbesserung gerechnet werden. Möge der strebsame Kirchenchor Spreitenbach mit viel Freude und Erfolg das bereits Erreichte zu immer grösserer Vervollkommnung gedeihen lassen.»

Um den Mitgliederbestand des Kirchenchores war es wirklich nicht immer gut bestellt. In den vorkonzilianischen Jahren, als die Messen in lateinischer Sprache gesungen wurden, war es für viele Sänger eine mühevolle, beschwerliche Angelegenheit, sich die einzelnen Texte anzueignen. Schon das Lesen der Wörter mit den vielen Vokalen bildete eine erste Schwierigkeit, und dann die Aussprache die zweite. Diese sprachlichen Schwierigkeiten stellten an die Leitung viel Geduld und verlangte von den älteren Mitgliedern viel Nachsicht. Haben diese Beschwernisse dazu beigetragen, dass der Chor oft an Austritten litt? Andere Austritte mögen aus persönlichen Reibereien erfolgt sein. Die Protokolle der Zeit der 90-er Jahre und dann wieder in den 20-er Jahren sprechen in dieser Sache eine deutliche Sprache. Gewissen Leuten mag auch die religiös-kirchliche Aufgabe des Kirchenchores nicht exakt am Herzen gelegen haben, denn öfters wurde eine mehr volkstümliche Einstellung und Ausdrucksweise gewünscht. Man verlangte nach dem Volkslied, dem Volkstheater und nach Abendunterhaltungen. Dies wurde dann auch während kurzer Zeit praktiziert. Dass diese Forderung angebracht wurde, wollte der Mehrheit nicht immer in den Kopf gehen. Dann gibt es auch Mitglieder, die wegen eines Missverständnisses die Toleranz und die Selbstbeherrschung nicht wahren konnten und sich als «beleidigte Leberwurst» aus dem Chor zurückzogen. Es ist auffallend, dass in den ersten 40 Jahren beinahe an jeder Generalversammlung über Austritte geklagt wird, dass neue Mitglieder angeworben werden sollten. Aber noch viel schlimmer stand es um die vielen, bedauerlichen Absenzen in den Proben. Diese Rügen sind nur zu gut zu verstehen: Der Dirigent gibt sich alle Mühe, ein Werk einzustudieren, gibt Weisungen und bringt Korrekturen an und in der folgenden Probe beginnt das Spiel von vorn, weil verschiedene Leute scheinbar «neu» zum Chor gestossen sind. Es mag sein, dass die standfesten, verantwortungsvollen Mitglieder nach einem kaum tragbaren «Tief» die Situation mit ihrem Gewissen nicht in Einklang bringen konnten und sich aufgerafft haben und mit unverwüstlichem Mut den Worten des Psalmisten gefolgt sind und seine Aufmunterung zu Herzen geführt haben:

Kommt, lasset uns jauchzen dem Herrn,
Huldigung rufen dem Felsen unseres Heils.
Lasst uns mit Lobpreis vor sein Angesicht treten,
und ihm jubeln in Liedern.
Denn der Herr ist ein grosser Gott,
ein grosser König über den Göttern allen.

In seiner Hand sind die Tiefen der Erde,
die Gipfel der Berge sein Eigentum.
Ps. 94

Wenn diejenigen, die über die Talente verfügen, sie nicht nützen, wie soll dann ein göttlicher Dienst weiter bestehen? Auch eine Gemeinschaft will geführt sein. Und jede Gemeinschaft ist so stark, so lebensfähig, wie ihre Führung. Auf jeden Fall ist es erfreulich, dass die Idealisten im Chor stets die Oberhand behielten und sich der Chor durch all die Jahre hindurch behaupten konnte.

Aus:
Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Kirchenchores Cäcilia Spreitenbach, 1889-1989, Kurt Wassmer